Im Projekt „zivilgerichtliches Online-Verfahren“ haben wir die Vision, rechtsuchenden Bürger:innen einen niedrigschwelligen, digitalen Weg zur Lösung ihrer zivilrechtlichen Probleme zu eröffnen. Gleichzeitig soll die Justiz durch effizientere Prozesse entlastet werden. Durch Nutzendenforschung identifizieren wir verschiedene Hürden von Bürger:innen im Kontext von Zivilverfahren.
Durch regelmäßige Usability-Tests mit Bürger:innen können wir herausfinden, ob sie unseren Onlinedienst verstehen und Hindernisse identifizieren. Im Jahr 2024 haben wir insgesamt acht Testrunden mit 50 Teilnehmenden durchgeführt, um unsere Onlinedienste zum Thema Fluggastrechte zu testen (Vorab-Check und digitale Klage).
Wir führen diese als moderierte remote Tests durch, d.h. die Testpersonen schalten sich via Videocall dazu und teilen ihren Bildschirm, während sie sich die Inhaltsseite anschauen und durch den Abfragedialog gehen. Teammitglieder aus den Disziplinen User-Research, UX/UI-Design oder Produktmanagement führen die Teilnehmenden dabei durch den Test, beobachten, wie sie den Onlinedienst nutzen und stellen Nachfragen. Bei der Auswahl der Testpersonen achten wir darauf, dass diese verschiedene Altersgruppen, Berufe sowie Erfahrungen mit Rechtsproblemen haben.
Klageverfahren und Kosten
Fast alle Teilnehmenden der Usability-Tests haben in der Vergangenheit Probleme bei der Durchsetzung ihrer Rechte erlebt. Bürger:innen haben in den Tests berichtet, dass sie oft nicht wissen, wie Klageverfahren ablaufen und welche Kosten damit verbunden sind. Sie erzählen von Unsicherheit und mangelnder Transparenz. Der mit einem Rechtsstreit verbundene Zeit-, Kosten- und Arbeitsaufwand wird als erhebliches Hindernis angesehen. Um den Weg einer Klage überhaupt zu verfolgen, müssen ein hoher finanzieller oder emotionaler Schaden sowie ein hohes Ungerechtigkeitsempfinden bei Bürger:innen vorliegen. Bevor sie klagen, prüfen Bürger:innen ihre Erfolgsaussichten, die finanziellen Auswirkungen, den Zeitaufwand und auch die Ressourcen der gegnerischen Partei (z. B. Großkanzlei bei Fluggesellschaft).
Die Testpersonen, die eine Rechtsschutzversicherung haben, betonen deren Bedeutung als Grundlage für die Durchsetzung ihrer Rechte vor Gericht mit anwaltlicher Hilfe. Für Bürger:innen ohne Rechtsschutzversicherung stellen die Kosten für einen Gerichtsprozess eine noch größere Hemmschwelle dar. Zwar sind Bürger:innen teils bereit, den Gerichtskostenvorschuss aus eigener Tasche zu zahlen, das Risiko der weiter entstehenden Kosten bleibt aber zu hoch. Insbesondere kleinere Beträge werden daher oft nicht eingefordert, obwohl Bürger:innen das Recht dazu haben.
Wir haben gelernt, dass Bürger:innen mit einer Klage nicht leichtsinnig umgehen – sie ist der letzte Ausweg. Bürger:innen möchten sicherstellen, dass sie alle anderen möglichen Wege, ihr Recht einzufordern, versucht haben. Wenn sie sich dann einer Klage widmen, benötigen Sie Zeit und Fokus. Dabei sind die Testpersonen auch bereit, eigenständig zu einzelnen Schritten zu recherchieren (z. B. zu einzelnen Paragrafen über Suchmaschinen).
Möglichkeiten zur Durchsetzung von Rechten
Obwohl ein Großteil unserer Teilnehmenden über ein gutes Wissen über ihre Rechte verfügt, würden nur einzelne von ihnen ohne Anwalt vor Gericht gehen. Grundsätzlich kennen sich die meisten nicht mit alternativen Möglichkeiten zur Durchsetzung ihrer Rechte aus. Ihnen ist vor allem der klassische Weg bekannt, über eine:n Anwält:in Klage einzureichen. Wenn sie die finanziellen Mittel haben, greifen Betroffene daher auf anwaltliche Hilfe oder Rechtsportale zurück. Diese sind besonders beliebt, weil Bürger:innen ihre Rechte ohne hohen emotionalen und zeitlichen Aufwand einfordern können und dabei beispielsweise nur 30 Prozent der Schadenssumme an das Portal abgeben müssen, ohne ein weiteres finanzielles Risiko zu tragen.
Teilweise unterlassen es die Rechtsuchenden allerdings vollständig, ihr Recht einzufordern. Außergerichtliche Lösungen und Angebote von Verbraucherzentralen oder Schlichtungsstellen kennen Bürger:innen oft nicht. Viele erhalten daher nicht die Ausgleichszahlungen, die ihnen zustehen.
Die Bereitstellung von Informationen auf unserer Website service.justiz.de zu möglichen Handlungsoptionen im Vorfeld einer Klage begrüßen Bürger:innen daher in unseren Tests. Insgesamt betonen die Teilnehmenden, wie wichtig es ist, Alternativen zu kennen und zu prüfen, welche Möglichkeiten sie verfolgen wollen. Allerdings tun sie dies nicht um jeden Preis - sie stellen Bequemlichkeit über Gerechtigkeit. Wenn die Optionen zu kompliziert, zeitintensiv oder kostspielig sind, verzichten sie lieber auf eine Ausgleichszahlung.
Erkenntnisse aus der Entwicklung unserer Informationsseiten für die digitale Klage
Beim Testen unserer Prototypen zur digitalen Erstellung einer Klageschrift im Bereich der Fluggastrechte hat sich gezeigt, wie wichtig eine einfache und verständliche Sprache im rechtlichen Kontext ist. Bürger:innen müssen die bereitgestellten Informationen verstehen, um sich bei der Nutzung des Onlinedienstes und der Auswahl der dort aufgezeigten Handlungsoptionen sicher zu fühlen. Gleichzeitig werden die bislang iterierten Inhalte als vertrauenswürdig und sachlich empfunden.
In den Tests begegnen wir zudem immer wieder technischen Herausforderungen, die wir nicht im Rahmen unseres Projekts lösen können. Beispielsweise hat die Mehrheit der Testpersonen ihren onlinefähigen Personalausweis bisher nicht genutzt oder hat ihn noch gar nicht. Die Freischaltung der Onlinefunktionen des Personalausweises und die Identifizierungs- und Authentifizierungsmöglichkeiten zur Nutzung von Onlinediensten sind damit Hürden, die Bürger:innen daran hindern können, eine Klage online einzureichen.
Insgesamt zeigen die Ergebnisse unserer Nutzendenforschung also: Aktuell spricht der Onlinedienst vor allem Bürger:innen an, die bereits Erfahrung mit Rechtsangelegenheiten und sehr gute deutsche Sprachkenntnisse haben sowie ein gewisses finanzielles Risiko tragen können. Zudem bestehen erhebliche Nutzungsanforderungen bei der Online-Identifizierung. Unser Ziel bleibt es daher, den Zugang zum Recht für alle Bürger:innen fortlaufend zu verbessern. Wir arbeiten weiter daran, einen barrierefreien, verständlichen Onlinedienst zu entwickeln, der auch für Personen ohne hohe rechtliche und technische Affinität niedrigschwellig zugänglich ist.